Erst drei Gigs der laufenden Tour sind verstrichen, als wir am 20. Oktober, zwei Stunden vor Konzertbeginn, in Toronto eintreffen. Nur zweimal sollte Kanada mit Aerosmith-Konzerten beglückt werden. Kaum an der Halle eingetroffen, schallt es einem bereits mit nicht mehr zu überbietender Lautstärke entgegen: Tickets! Tickets! Selbst die sonst etwas cooleren Kanadier scheinen von der momentanen Aerosmith-Euphorie angesteckt zu sein. Draußen herrschen winterliche Temperaturen, doch in der Halle taut das Metal-Herz sehr schnell auf. Pünktlich um 20.00 Uhr beginnt der Support-Act Dokken mit neuem Songmaterial, bevor ältere Tracks wie "Just Got Lucky" oder "Into The Fire" folgen. Einen Riesenapplaus ernten sie für ihre Ballade "Alone Again", wobei sich die Halle in ein Meer von Feuerzeugflammen verwandelt. Bei "It's Not Love" wird mit Publikumsanmache losgerockt, und allmählich gewinnen Dokken die Kids für sich. Bei "Lightning Strikes" zeigt George Lynch, daß er nicht zu Unrecht zur Garde der neuen Guitarheros gezählt wird. Ein gut fünfminütiges Solo von George bildet einen der Höhepunkte des Konzertes. Die obligatorische Zugabe folgt mit "In My Dreams". Dokken hinterlassen einen routinierten Eindruck; allerdings wird sich der gute Don etwas einfallen lassen müssen, will er sich nicht nur mit guten Platten zufriedengeben. Amerikanische Kritiker gingen zum Teil sehr hart mit ihm ins Gericht, worauf er nur ein 'Fuck you!' zu antworten wußte. Die Fans gaben ihm recht. Als dann nach einer gut halbstündigen Umbaupause Aerosmith die Bühne des Maple Leaf Gardens betreten, scheinen die Kanadier vollkommen aufgetaut zu sein. Nach einem kurzen Intro fällt der Vorhang, der bis dahin das Equipment verhüllt hatte. Der Bühnenboden ist mit einem überdimensionalen Aerosmith-Schriftzug versehen, und die Seiten bilden große Wände, auf denen die Symbole der aktuellen LP zu sehen sind. Mit "Toys In The Attic" steigen Aerosmith ein - die erste Gänsehaut ist garantiert! Sofort fällt der glasklare Sound auf, der selbst die hinteren Reihen noch wegfegt. Als zweites Stück folgt "The Same Old Song And Dance", durch einen längeren Basspart abgeschlossen. Tom Hamilton begibt sich dabei an den Bühnenrand und rückt sich ins rechte Licht. Als einzigen Track der "Night In The Ruts"-LP spielen Aerosmith "Bone To Bone". Bei "Big Ten Inch Records" läßt Steven Tyler erstmalig seine Harmonica grüßen. Als er dann einen Zeitungsartikel vorliest, in dem "Dude Looks Like A Lady" aufgrund der textlichen Aussage verurteilt wird, läßt es sich Steven nicht nehmen, die Verantwortlichen mit wenig netten Worten zu überhäufen. Knallte auch bisher kein Stück des neuen Albums aus den Boxen, so hatte die Wartezeit hiermit ein Ende. Optisch mit einer ausgeklügelten Lightshow unterlegt, folgt mit "Dude" ein erster Höhepunkt. Vom "Rock In A Hard Place" -Album geben Aerosmith "Lightning Strikes" zum Besten. Textlich hat das Stück übrigens den New Yorker Stromausfall vor einigen Jahren zum Inhalt. "Rag Doll" von "Permanent Vacation", das zum Mitsingen animierende "Last Child", sowie "Girls Keep Comin' Apart" folgen. Weiter geht's mit "Draw The Line", wobei sich Joe Perry lockerer denn je gibt. Ein paar Umdrehungen um die eigene Achse müssen sein. Bei "Simoriah", welches durch ein längeres Solo beendet wird, setzt sich nun erstmals auch Brad Whitford in Szene. Aus ihrem ersten Album ziehen Aerosmith den Joker "Walkin' The Dog" hervor, bevor der zweite große Höhepunkt des Abends erfolgt: "Dream On" treibt die Kids zur Raserei; einen dicken Nachschlag gibt's mit "Sweet Emotion". Im Anschluß kündigt Steve das Drumsolo an: "Mr. Joey Kramer, the power of positive madness!" Während der rund zehnminütigen Einlage wird das Drumkit seitlich um jeweils 90 Grad geschwenkt, was das Publikum mit einem Höllenlärm quittiert. Joey peitscht die Kids zunächst hoch, um dann eine minutenlange Pause einzulegen. Das anschließende Bearbeiten seines Drumkits mit dem Kopf sollte nicht unbedingt jeden zum Nachahmen animieren. Nahtlos schließt sich "Rats In The Cellar" an, dessen Höhepunkt die Gitarrenduelle zwischen Brad und Joe sind. Die zehnminütige Version stellt den absoluten musikalischen Leckerbissen des gesamten Konzertes dar und enthält einen langen Mittelpart, in dessen Verlauf die Hard/Blues Rock-Wurzeln der Band und die wuchtige Rhythmus-Sektion voll zur Geltung kommen. Der Laufsteg, der um Joeys Schlagzeug herumführt, wird von Steven unzählige Male genutzt. Entweder versucht er, die jeweils letzte Runde um das Drumkit in punkto Schnelligkeit zu überbieten, oder er stampft im Rhythmus der Musik, um sich am Ende des Laufsteges mit einem Handüberschlag auf der Bühne wiederzufinden. Auf "Let The Music Do The Talking" folgt "Train Kept A Rollin", bei dessen Ende Steven seinen Mikroständer mehrmals in die Luft wirft und gekonnt auffängt. "The Night Is Young" stellt er fest, bevor mit "Walk This Way" die erste Zugabe gespielt wird. Die Halle droht jetzt endgültig überzukochen. "I'm Down" markiert dann den endgültigen Schluß des Sets.
Montreal steht als nächstes auf dem Programm. Es sollte der wohl am schwächsten besuchte Gig der Tour werden; nur etwa 5000 Fans verlaufen sich im riesigen Forum. Aerosmith lassen sich die Enttäuschung nicht anmerken, streichen allerdings - wie auch bei den folgenden Gigs - "Girls Keep Comin' Apart", "Simoriah" und "Walkin' The Dog" von der Playlist. Warum sie das taten, war leider nicht herauszubekommen. In Montreal kommt es auch zu unserem ersten Treffen mit den Smiths, doch Fotosessions sind heute wichtiger als ein kleiner Plausch nach der Show. Eine witzige Begebenheit des nächsten Tages sei am Rande erwähnt: Wir treffen in einem Metal-Shop zwei Mitglieder der Gruppe Deaf Dealer. Als sie hören, daß wir für Metal Hammer/Crash arbeiten, reagieren sie unerwartet enthusiastisch und bestehen darauf, uns ihr neues Demo vorzuspielen. Das Material, durchweg schnell, gefällt uns sehr gut; allerdings dürfte mit einem Release der neuen LP frühestens ab Januar zu rechnen sein. Argerlich dagegen die Tatsache, daß Heart vor acht Tagen im Forum spielten. Diesen Gig hätten wir zu gerne noch gesehen. Da es aber anscheinend das letzte Konzert der Tour war, müssen wir uns mit der Enttäuschung abfinden.
Am Samstag, dem 24. Oktober, machen wir uns auf in die Staaten. Rochester liegt auf unserer Route. Ein mittelgroßes Nest zwar nur, aber das Auffinden der Halle bereitet uns dennoch Schwierigkeiten. Auf den Opener müssen wir deshalb leider verzichten. Die Voraussetzungen für Aerosmith sind hervorragend: Samstag Abend und die Halle seit Wochen restlos ausverkauft. Auf dem Schwarzmarkt herrscht Hochkonjunktur; dennoch müssen sich viele Kids mit einem Stehplatz vor der Halle begnügen. Aerosmith müssen "Rats In The Cellar" an diesem Abend improvisieren, da Stevens Mikro den Geist aufgibt. Sie stecken dieses Problem mit Leichtigkeit weg und spielen "R.I.T.C." als Zugabe kurzerhand noch einmal. Die Stimmung unter den Fans ist noch um einiges besser als in Kanada. Auf amerikanischem Boden scheinen Aerosmith zu absoluter Höchstform aufzulaufen. Der übliche Brauch, einen Talk mit den Kids nach dem Konzert abzuhalten, wird auch heute wieder fallengelassen.
Zwei Tage später geht es weiter nach Portland, gelegen an der Ostküste. Es wird eine lange Reise; ca. 1200 km legen wir zurück. Wir treffen pünktlich eine Stunde vor Konzertbeginn an der Halle ein, in der Erwartung, Aerosmith zwei Tage hintereinander erleben zu dürfen. In dem seit Wochen ausverkauften Hexenkessel entstehen die auf diesen Seiten abgedruckten Livepics, und ein Treffen mit den Smiths steht ebenfalls auf dem Programm. Ungläubig starrt man uns an, als wir erzählen, daß wir die Tour bereits eine Woche mitfahren. Hinter der Bühne keine Spur von Exzessen - im Gegenteil: Sie machen einen überaus ruhigen Eindruck, ganz so, als hätte es wilde Eskapaden bei ihnen nie gegeben. Einzig Steven ist immer in Bewegung. Groupies scharen sich gleich haufenweise um ihn, und er kann sich ihrer kaum erwehren. Die Musiker wirken sehr aufgeschlossen und kollegial; auch eine Menge Freunde sind anwesend. Wir unterhalten uns eine Zeitlang, eine Fotosession darf natürlich auch nicht fehlen, und abschließend versichern uns Aerosmith persönlich, daß sie im nächsten Jahr endlich auch nach Europa kommen werden.
Auf dem Weg von Portland nach Providence machen wir Zwischenstation in Boston. Im Live-Club "Ratskeller" lernen wir den Gang Green-Manager Alec Peters kennen, der uns sein Quartier für eine Nacht zur Verfügung stellt. Der "Ratskeller" genießt einen ziemlich verwegenen Ruf, und ein Besuch lohnt sich hier nicht unbedingt. Interessanter ist da schon der "Channel" -Club, in dem einen Tag vor unserer Ankunft Overkill aufgetreten sind.
Providence liegt ca. eine Stunde von Boston entfernt. Wir schreiben heute Samstag, den 31. Oktober, also Halloween-Day. Etwas besseres konnte uns gar nicht passieren; die Gelegenheit, Aerosmith auf Halloween erleben zu dürfen, bietet sich wohl nicht alle Tage. Es wurde, nicht zum ersten Mal im Verlauf der Tour, ein Zusatzkonzert angesetzt; ausverkauft sind sie beide. Der Gig wird tatsächlich außergewöhnlich: Die Bühne ist in ein Meer von Kürbissen umgewandelt worden, und wir erleben heute unser bestes, leider aber auch letztes Konzert. Man merkt Aerosmith deutlich an, wie heiß sie aufs Spielen sind - schließlich ist es fast ein Heimspiel. Das Konzert verläuft heute anders, endlich werden auch wieder die so schmerzlich vermißten Tracks der Toronto-Playlist gespielt. Zudem gibt es einige zusätzliche Überraschungen, mit denen wohl niemand gerechnet hätte: Wir trauen unseren Ohren nicht, als Aerosmith das geniale "Magic Touch" spielen, und zusätzlich gibt es noch den Jahrhunderttrack "Seasons Of Wither" vom "Get Your Wings" -Album zu hören! Von seiten der Fans erleben Aerosmith eine Unterstützung, wie sie sich die meisten Gruppen wohl nur wünschen können. Steven hat erstmals seine Garderobe gewechselt und legt auf der Bühne Strecken zurück, die einem Marathonläufer alle Ehre machen würden. Als kleinen Gag streut man eine Halloween-Kostümwahl ein, wobei Steven den Unparteiischen spielt und das Publikum die Entscheidungen fällen läßt. Letztlich macht ein Typ mit einer Mondsichel auf dem Schädel das Rennen. Das Konzert heute übertrifft alles bisher dagewesene - volle 120 Minuten stehen Äerosmith auf der Bühne. Ein wahrhaft perfekter Abschluß unserer Reise! Nach dem Motto "The Night Is Young" geht es hinterher in den Straßen der Stadt noch hoch her. Halloween mit Äerosmith...
Fazit: Dank Stevens Einsicht, daß Drogen auf der Bühne nichts zu suchen haben, erleben Äerosmith momentan einen zweiten Frühling. Das neue Album tut ein übriges. Die Band sprüht geradezu vor Energie - hoffentlich springt davon baldmöglichst auch ein Funke auf Europa über!
In einer Zeit, in der man sich vor interessanten Konzertangeboten kaum noch retten kann, sollte das Rockherz doch so rundum befriedigt sein. Denkt man zumindest. Kaum ein Topact kommt an einer Deutschlandtournee vorbei, sind wir doch - vor allem im HM/HR-Bereich - einer der wichtigsten Musikmärkte weltweit. Unter diesem Aspekt betrachtet scheint es unglaublich, daß es dennoch einige Megaseller gibt, die auf europäischem Boden nicht Fuß fassen können. Als eines von mehreren Beispielen sei hier nur die Gruppe Triumph angeführt. Doch welcher Konzertveranstalter nimmt schon das Risiko auf sich, eine sogenannte 'große' Gruppe über den Teich zu holen, wenn deren Alben bei uns seit Jahren mit bewundernswerter Ignoranz übersehen werden? Letztendlich sind es eben einzig und allen die Plattenverkäufe, die einen dicken Happen erst schmackhaft machen. Es grenzt fast an ein Wunder, daß für den September '87 eine Aerosmith-Tour anberaumt wurde. Da jedoch das heimatliche Amiland so euphorisch auf das neue Album "Permanent Vacation" reagierte, mußte man sich höherer Gewalt beugen, und so tourten Aerosmith nun zunächst im eigenen Lande. Mit Schaum vorm Munde wurde zur Kenntnis genommen, daß der angesetzte Europabesuch erst einmal ins Wasser fällt. Immerhin ist die Tour ja nur verschoben, doch hat sich der innere Friede auch mit dieser Nachricht nicht eingestellt. Kurzentschlossen haben sich die Verfasser dieser Zeilen auf einen Trip eingelassen, der den üblichen Rahmen eines Konzertbesuches sprengen sollte. Gefrustet aufgrund der Tourneeabsage machten wir uns auf den Weg ins Heimatland der fünf Luftschmiede.