Ich kann mich noch sehr gut an mein erstes Mal mit der Plastikgitarre erinnern. Zum Start von Guitar Hero III verbrachten ein Kumpel und ich unzählige Stunden vor dem Bildschirm. Mit hunderten Durchläufen ‘Hit Me With Your Best Shot’ (Pat Benatar), ‘Raining Blood’ (Slayer), ‘My Curse’ (Killswitch Engage) und ‘Through The Fire And Flames’ (Dragonforce) hatten wir unsere Auge-Hand-Koordination perfektioniert. Es folgten unzählige weitere Abende mit Vorgängern, Nachfolgern und Konkurrenten. Die Gitarre mit den fünf markanten, bunten Knöpfen ist seitdem für mich wie ein Fahrrad – selbst wenn ich sie jahrelang nicht benutzt habe, sind die in hunderten Stunden trainierten Fähigkeiten jederzeit auf mindestens solidem Niveau abrufbar.
Neue Gitarre, neuer Blickwinkel
Umso ungewohnter ist die Gitarre des neuen Guitar Hero Live, mit dem Activision erstmals von der ungeschriebenen Norm der 2005 von Harmonix erfundenen Fünf-Tasten-Klampfe abweicht. Stattdessen setzen die Hersteller jetzt auf sechs Knöpfe, die in zwei Dreierreihen nebeneinander angeordnet sind. Das fühlt sich natürlich aufgrund der neuen Akkord-Kombinationen erheblich realistischer an, als die Einzelknöpfe der alten Gitarren, erfordert aber aufgrund neuer Griffe, neuer Symbole und neuer Anzeigen für alte Hasen wie mich ein völliges Umdenken. Hat man sich aber erstmal in die neuen Griffe eingearbeitet, eröffnen sich völlig neue Schwierigkeitsgrade. Rasend schnelle Akkordwechsel, Bareé-Akkorde und halbwegs akkurat nachgebildete Griffe auf der Akustikgitarre waren eben vorher kaum möglich, können jetzt aber dank der neuen Knopf-Reihung problemlos abgebildet werden. Einziges Manko: der Hals der neuen Gitarren ist etwas zu schmal und wenn man blind spielt, verrutscht man zu schnell – hier wäre eine bessere Trennung effektiver gewesen.
Ebenfalls cool ist die neue Ansicht, aus der man auf die Konzerte der Bands blickt. Statt wie früher einer eher mittelprächtig animierten Comic-Crew dabei zuzuschauen, wie sie abrockt, ist man jetzt selbst auf der Bühne. In aufwändigen Live-Szenen spielt man im Einzelspieler-Modus von Guitar Hero Live nämlich die Festival-Sets fiktiver Bands nach. Dabei steht man entweder vor einem schwitzigen, engen Club oder einer gigantischen Arena, kann, solange der Song es zulässt, das Publikum dabei beobachten frenetisch mitzusingen und auch die eigenen Bandmitglieder dabei betrachten, wie sie auf der Bühne Spaß haben. Das Abgefahrene: Freestyle Games hat Zuschauer und Band in mehreren Ebenen der Ekstase und Enttäuschung gefilmt – je nach Fähigkeit des Gitarristen feiern die Besucher den Spieler entweder gnadenlos ab – oder werfen mit fauligen Gegenständen. Das ist verdammt cool und bietet endlich eine andere Sichtweise auf die Konzerte der Musikspiele. Bei höheren Schwierigkeitsgraden ist aber nach wie vor egal, was neben dem „Highway“ passiert, da man mit hochkonzentriertem Knöpfchendrücken beschäftigt ist.
Weniger Anspruch, neuer Online-Modus
Einziger Wermutstropfen: Es ist bei den Offline-Konzerten jetzt nicht mehr möglich, einen Auftritt durch fehlende Skills völlig zu versieben. Stattdessen zieht die Band die Songs auch dann durch, wenn man selbst gar nicht mehr in die Saiten greift. Das ist vermutlich realisitischer als ein Totalabbruch und führt zu sehr unterhaltsamer Verzweiflung bei den virtuellen Musiker-Kollegen, senkt den Schwierigkeitsgrad der „Kampagne“ aber erheblich. Außerdem sehr schade: durch das neue Konzept ist es nicht mehr möglich, die Einzelspieler-Bereiche kooperativ durchzuspielen. Erst wenn alle Sets freigeschaltet sind, können die Songs im Freien Spiel mit- bzw. gegeneinander gerockt werden.
Ganz anders bei dem neuen Online-Modus Guitar Hero TV, der eher ein zweites Spiel, als die Online-Variante von Guitar Hero Live ist. Hier empfinden die Entwickler das ehrwürdige Musikfernsehen der Neunziger nach – auf zwei Kanälen werden rund um die Uhr Musikvideos gestreamt, auf die der Spieler die Songs auf seiner Gitarre mitzocken kann. Dabei wird zum Start aus 240 Songs gewählt, Activision verspricht aber eine kontinuierliche Erweiterung des Kataloges. Durch die riesige Auswahl und die große Abwechslung (von Zucker-Pop bis Metal ist eben alles dabei) in der Playlist, in der die ebenfalls grandiose Songauswahl des Hauptspiels erstaunlicherweise nicht enthalten ist, kommt nie Langeweile auf.
Spaßbremse Mikrotransaktion
Das Problem der Mehrspieler-Variante sind vielmehr seine Mikrotransaktionen: Wer nicht auf eine der Playlists zurückgreifen, sondern sich die Songs selbst auswählen oder zusammenstellen muss dafür sogenannte „play“-Tokens einlösen, die man sich über Levelaufstiege verdient oder gegen Ingame-Währung im Shop tauschen kann. Das dauert naturgemäß ziemlich lange, sodass man sich Spielwährung gegen Echtes Geld kaufen kann, wenn man keine Zeit hat den Spieleabend durch wochenlangen Grind der Playlists vorzubereiten.
Man kann sich sogar für rund 5€ 24-Stunden-Pässe kaufen, um im Anschluss einen ganzen Tag auf alle Songs der Playlists zuzugreifen. Es ist offensichtlich (und aufgrund der Lizenzgebühren vielleicht auch verständlich), dass Activision hier extra Geld verdienen möchte. Kombiniert mit der jederzeit notwendigen Internet-Verbindung ist der Online-Modus aber auf diese Weise nicht ganz so mächtig wie er aufgrund seiner umfangreichen Song-Sammlung sein könnte.
Fazit
Guitar Hero Live ist vielleicht nicht das beste Guitar Hero aller Zeiten (diese Auszeichnung bleibt nach wie vor Guitar Hero: Warriors Of Rock mit seinen legendären Bosskämpfen vorbehalten), kann aber mit seiner extrem starken und abwechslungsreichen Setlist, der coolen Egoperspektive im Live-Modus und einer unvergleichlichen Song-Vielfalt im TV-Modus glänzen. Zudem ist die neue Gitarre durchaus durchdacht und bietet durch ihre sechs Knöpfe eine gute Annäherung an realistische Griffe. Durch die dauerhaft notwendige Internetverbindung für den Stream im TV-Modus sowie den Verzicht auf einen Koop-Modus in der „Kampagne“ verliert man aber an den entscheidenden Punkten wertvollen Boden. Dennoch: Guitar Hero Live ist eine gelungene Wiederbelebung einer starken Marke und besonders der TV-Modus spricht erneut für lange Stunden mit der Plastikgitarre.
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