Streichen wir vorweg gleich mal einen Begriff: „Grunge“. Welche Szene Alice In Chains und beispielsweise Nirvana – sprich: Heavy Rock und Punk – vereinen möchte, führt sich partiell selbst ad absurdum. Orientieren wir uns also lieber an dem, was Alice In Chains immer waren und – angesichts ihres unfassbaren Comeback-Albums BLACK GIVES WAY TO BLUE – anscheinend auch immer sein werden: eine zeitlos gute, klassisch inspirierte Rock-Band.
Als die METAL HAMMER-Redaktion vor ein paar Jahren zum ersten Auftritt mit ihrem neuen Sänger William DuVall in Richtung Rock am Ring-Hauptbühne trottete, war die Stimmung in Moll getaucht. Nicht nur aus Ehrfurcht vor dem 2002 an einem Drogenmix verstorbenen Original-Frontmann Layne Staley, sondern aus Angst davor, der Selbstdemontage einer Jugendliebe beizuwohnen. Eine Stunde später lagen wir uns in den Armen, sangen jede Textzeile der alten Hits mit und mussten unsere Kinnladen ebenso einsammeln wie unsere Vorurteile. William DuVall hatte jede verdammte Note so getroffen wie die Musikwelt das von seinem Vorgänger kannte – wenn man ehrlich ist, sogar besser als Layne in seinem drogenverhangenen Endstadium.
Umso größer war danach die Erwartungshaltung an das Comeback-Album. Würden Alice In Chains noch einmal derart leidenschaftliche Momente wie auf FACELIFT (1990) und DIRT (1992) entfachen können? Die Antwort heißt BLACK GIVES WAY TO BLUE und besitzt alles, wirklich verdammt noch mal alles, was diese Band Anfang der Neunziger so unvergleichlich machte (und was man auf dem letzten regulären Studiowerk ALICE IN CHAINS von 1995 vermisste): Die sehnsuchtsvollen Riffs von Jerry Cantrell, die unbegreifliche Weite der Gesangslinien, den Mix aus düster-druckvollem Metal der Marke Black Sabbath und alternativ angehauchten Unplugged-Songs. Dazu hat ihnen Nick Raskulinecz (unter anderem Foo Fighters) einen Sound verpasst, der jedes Detail hörbar macht: hart, aber lebendig; transparent, aber druckvoll.
So muss eine Rockplatte klingen! Aus diesem Stoff knüpfen Schlagzeuger Sean Kinney und Bassist Mike Inez ihren wohl bekannten, engmaschigen Rhythmusteppich, auf dem sich Gitarrist und Haupt-Songwriter Jerry Cantrell mal vehement (‘Check My Brain’, ‘A Looking In View’), melancholisch-melodiös (‘All Secrets Known’, ‘Take Her Out’, ‘Private Hell’), hintergründig aggressiv (‘Last Of My Kind’, ‘Acid Bubble’) oder hard-rockig (‘Lesson Learned’) austobt. Wer sich vor allem als Fan der Unplugged-Scheiben SAP (1992) und JAR OF FLIES (1994) sieht, dürfte zu ‘When The Sun Rose Again’, ‘Your Decision’ und dem Layne Staley gewidmeten, wunderschönen Titel-Song (das Piano stammt von Elton John) feucht-fröhliche Augen bekommen.
Kommen wir zur größten Unbekannten im Line-up: Dass man zeitweilig vergisst, dass da eben nicht mehr Layne Staley singt, sondern sich in der Stimme von William DuVall verliert, ist vielleicht das größte Lob, das man dem neuen Mann am Mikro machen kann. In manchen ruhigeren Passagen merkt man die stimmlichen Unterschiede: DuVall hat eigentlich eine „normalere“ Tonart als sein Vorgänger. Dass er sich nun voll in den Dienst der Band stellt und im Duett mit Cantrell die berühmten Gesangslinien vergangener Zeiten „klont“, stört kein bisschen – die Emotionen, die DuVall in die Songs legt, erzeugen Gänsehautmomente und den „alten“, originalen Alice In Chains-Vibe.
BLACK GIVES WAY TO BLUE zeigt eindrucksvoll: Alice In Chains haben nichts von ihrer Relevanz eingebüßt – schön, dass sie wieder da sind. Von wie vielen Comebacks der letzten Jahre kann man das guten Gewissens behaupten? Und, meine Damen und Herren – das hier ist nicht nur das Album des Monats, das ist das Album des Jahres!
Kommentare der Redaktion
Wenn eine Band 14 Jahre lang kein Album auf den Markt bringt, ist sie in den meisten Fällen nicht mehr relevant – oder sie heißen Alice in Chains und veröffentlichen mit BLACK GIVES WAY TO das Comeback des Jahres. Nach dem Tod von Sänger Layne Staley hat niemand mehr an die Seattle-Veteranen geglaubt, doch mit William DuVall am Mikro zeigen Alice in Chains aufs Neue, was keiner besser als sie kann: Charakter und Charisma in Musik umzuwandeln. Unglaublich, aber wahr – und wundervoll zugleich.
Thorsten Zahn (7 Punkte)
Comeback-Alben sind ja per se eine zwiespältige Sache, und im Fall von Alice In Chains doppelt kompliziert. Layne Staley am Mikro zu ersetzen, ist unmöglich. Doch was William DuVall auf BLACK GIVES WAY TO BLUE leistet, grenzt an eine Sensation. Er ist feinfühlig genug, nicht zu kopieren, setzt seine grandiose Stimme aber dennoch punktgenau in Szene. Etwas Besseres hätte Jerry Cantrell und seiner Truppe nicht passieren können.
Petra Schurer (6 Punkte)
Die schon immer klassischste Band der Seattle-Szene trumpft mit einem Comeback auf, dass Reißbrett-Reunion-Hypes ad absurdum führt. Alice In Chains gelingt das schwierigste Kunststück – der Sängerwechsel – deshalb so mühelos, weil Jerry Cantrells Zweitstimme damals wie heute schon die halbe Miete ist und DuVall, ohne dessen Gesangs-Glanzleistung zu schmälern, eben nicht allein auf weiter Flur steht. Dazu eine saftige Produktion (das Comeback hörbarer Basslinien) sowie großartiges Songwriting. Eine einmalige Band – zum zweiten mal.
Frank Thießies (7 Punkte)
Ich habe mich schon immer gefragt, warum Alice In Chains in die Grunge-Schublade gesteckt wurden. Für die Vermarktung der Alben war es sicher gut, trotzdem haben mich nicht wenige Riffs und der Gesang auch an Bands wie Confessor erinnert und damit an handfesten Metal mit Prog- und Doom-Schlagseite. Mal abgesehen von den großartigen Songs, die Cantrell geschrieben hat: DuVall ist einfach nur der Hammer. Man darf Layne Staley vermissen – muss es aber nicht: perfekt!
Christian Hector (7 Punkte)
Vor diesem Album hatte ich als eherner Alice In Chains-Fan wirklich Angst. Doch anstatt das Erbe der Grunge-Ikonen zu zerstören, zeigt es eine intensive Weiterführung und Erneuerung des Band-Sounds, der sowohl neue Türen öffnet, wie auch alte Tugenden pflegt und ganz knapp an der Höchstnote schrammt. Leider kein neues DIRT, aber zum Glück eben auch kein lauer Aufguss.
Tobias Gerber (6 Punkte)
Ganz ehrlich: Auf ein neues Alice In Chains-Album habe ich nicht wirklich gewartet. Schon gar nicht auf Platz eins des Soundchecks. Aber andererseits kann man sich dem Charme von BLACK GIVES WAY TO BLUE kaum entziehen: sehr Neunziger-retro, im besten Sinn unspektakulär, weil konzentriert auf schöne Songs und nachdenkliche Melancholie, wie ein (aller)letzter Seufzer des Grunge. Creed dürfen sich jetzt bitte sofort wieder auflösen.
Robert Müller (5 Punkte)
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