Drei Mal in Folge spielen Rammstein während ihrer aktuellen Europatournee in ihrer Heimatstadt; METAL HAMMER besucht am Sonntagabend das zweite Berlin-Konzert. Die größte Provokation Rammsteins heute ist wahrscheinlich die, alles so zu machen wie immer.
Vor Rammsteins erstem von drei Berlin-Konzerten am Samstag gab es noch Proteste vor dem Stadion – knapp 400 Protestierende gegen rund 60.000 Menschen auf dem Weg zum Konzert. Die Stimmen auf beiden Seiten des Meinungsspektrums sind laut, wichtig und werden gehört. „Keine Bühne für Täter“ fordern die einen, „Unschuldsvermutung“ pochen die anderen – die Wahrheit liegt womöglich in der Mitte und wird weder am Samstag noch am heutigen Sonntag, wo die Proteste stiller ausfallen, gefunden.
Unprovokative Provokation
Auf den Rängen des Berliner Olympiastadions bleiben heute einige wenige Plätze leer, noch Tage vor dem Konzert gab es restliche Tickets zu kaufen. Nicht alle Rammstein-Fans wollen und können ausblenden, welche Vorwürfe ungeklärt im Raum stehen. Zugleich wäre es falsch, pauschal zu unterstellen, alle Konzertbesucher würden Till Lindemann und sein Verhalten – ob „nur“ unmoralisch oder gar strafbar – vorbehaltlos gutheißen. Doch herrscht unter den Anwesenden (Männer, Frauen, alt, jung, Kinder, fast durchgehend in Rammstein-Shirts gekleidet) Einigkeit: Heute soll allein die Musik sprechen. Die Band ist ein Lebensgefühl und größer als einzelne Mitglieder. Die Außenwelt bleibt draußen. Herzförmige Ballons werden herumgereicht, La Ola-Wellen wogen durchs Stadion, die Fan-Gesänge sind laut wie eh und je.
Die Show ist mittlerweile altbekannt: die gigantomanische Bühnenkonstruktion, die dystopische Licht-Show, Feuerwerk und Flammen auf der Bühne, im Stadion, in Kochtöpfen und Kinderwägen. Das ist Spektakel genug; doch die viel beschworene Provokation liegt heute allein darin, alles (von ‘Pussy’ abgesehen) so durchzuziehen, als hätten die Vorwürfe und Debatten der vergangenen zwei Monate nicht stattgefunden.
Der kleine Unterschied
Daher guckt man womöglich intensiver auf die Protagonisten statt das Brimborium, und stellt fest: Auch da tut sich nicht (mehr) viel. Nach verhalteneren ersten Konzerten der Tournee sind heute alle gut drauf, lachen, feixen und posieren miteinander.
Die kleinen Unterschiede zu vorherigen Shows gewinnen also an Gewicht: Die Power-Ballade ‘Zeit’ bewegt ohnehin Herzen und Gemüter; wenn Till Lindemann eine Textzeile ändert und „Wir sind noch nicht so weit“ singt, kommt das einem Leitbild gleich: Es kann noch so viel über einen möglichen Rückzug der Band gemunkelt werden, ans Ende wollen sie noch nicht denken. In ‘Ich will’ bleibt die Zeile „Wir wollen, dass ihr uns vertraut“ lange im Raum stehen – die eigentlich folgende „Wir wollen, dass ihr uns alles glaubt“ verschluckt Lindemann.
Am Vorabend soll Lindemann in ‘Angst’ noch gesungen haben „Alle haben Angst vor Lindemann“ (statt „vorm schwarzen Mann“) – warum er am Sonntag auf diesen Seitenhieb verzichtet, darf spekuliert werden (Spaß am einmaligen Effekt? Falsches Zeichen, die Vorwürfe ins Lächerliche ziehen zu wollen?). Dafür legt er an anderer Stelle nach: In ‘Ohne dich’ singt er zwischendurch statt „… und die Vögel singen nicht mehr“ „… und die Sänger vögeln nicht mehr“ (und endet mit einem herzlichen „Ohne euch.“). Es sind derartige kleine Details, in die Fans und Feuilleton Aussagen interpretieren dürfen; denn mehr Ansagen und Statements gibt es nicht. Zur Deeskalation trägt das nicht bei.
Routine als Problem
Und das wird zum Problem: Jedem Blick Lindemanns ins Publikum, jeder Geste, jeder Song-Zeile schreibt man eine weitere Bedeutung zu. Selbst wenn nach Abpfiff die Musiker sekundenlang von der Kamera hinter die Bühne begleitet werden, dann wie, um zu zeigen: Hier gibt es nichts zu sehen. Rammstein haben bislang funktioniert, weil sie bei aller Provokation unbescholten und unangreifbar waren. Nun fällt es schwer, das Konzert wirklich unbeschwert zu genießen. Um das wieder zu erreichen, braucht es lückenlose Aufklärung. Die Alternative würde lauten, immer wieder Situationen wie diese befürchten zu müssen:
Am Morgen nach dem Konzert werden neue Vorwürfe gegen Mitglieder der Band laut. Erstmals wird nicht nur Till Lindemann beschuldigt, sich an weiblichen Fans vergangen zu haben, sondern explizit erstmals auch Flake Lorenz. Das verleidet einem den Konzertabend selbst im Nachhinein.
„Das war großartig. Danke, dass ihr heute mit uns hier wart“, schließt Till Lindemann den Abend. Am Dienstag 18.7. spielen Rammstein ihr drittes Berlin-Konzert 2023.
Einen ausführlichen Konzertbericht von der aktuellen Rammstein-Tournee mit exklusiven Fotos findet ihr in der neuen METAL HAMMER-Ausgabe 08/2023.
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