Die US-amerikanische Post-Metal-Instanz Neurosis geriet zuletzt in die Schlagzeilen, nachdem Scott Kelly – mittlerweile der ausgeschiedene Frontmann der Band – einen Social Media-Post absetzte. Dort gestand er der Öffentlichkeit, seine Frau und Kinder über Jahre hinweg auf mehrfache Weise misshandelt zu haben. Es schien so, als würde der reumütige Sänger mit der Wahrheit herausrücken wollen, um erstmalig für seine Fehler einzustehen und fortan an sich selbst zu arbeiten.
Nun melden sich seine Ex-Kollegen von Neurosis zu Wort, die klare Worte für sein Statement finden.
„Drei Jahre lang herrschte Funkstille zwischen uns.“
Was der Öffentlichkeit ebenso wenig bekannt war: Die Band erfuhr bereits 2019 von den schweren Misshandlungen, die Kelly an seiner Familie verübte. Die Band reagierte konsequent und gingen mit ihm fortan getrennte Wege:
„Als Band haben wir uns Ende 2019 von Scott Kelly getrennt, nachdem wir von den schwerwiegenden Misshandlungen erfahren haben, die er in den vergangenen Jahren gegenüber seiner Familie begangen hat. […] Aus Respekt vor der direkten Bitte seiner Frau um Privatsphäre, […] haben wir diese Informationen nicht weitergegeben.“
„Seit 2019 haben wir zahlreiche Versuche unternommen, Scott zu kontaktieren. Wir wollten ein ehrliches Gespräch über den Status der Band führen und herausfinden, wie es ihm und seiner Familie geht, aber er hat sich drei Jahre lang geweigert, mit uns zu sprechen. Mittlerweile sind wir der Ansicht, in seiner Reaktion ein eindeutiges Muster zu erkennen: Scott weigerte sich [in den letzten Jahren], die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Nachdem wir mehr als 35 Jahre lang mit jemandem so viel durchgemacht haben, würde man ein gewisses Maß an Abschluss oder zumindest eine Antwort erwarten.“
Damals war es der Schock, der tief saß; heute haben Neurosis noch immer mit der riesigen Enttäuschung zu kämpfen, die schwer wiegt – vor allem, nachdem Kelly sich völlig unvermittelt in den Fokus der medialen Öffentlichkeit begeben hat.
Kelly führte ein Doppelleben
„In den letzten zwanzig Jahren lebten wir weit voneinander entfernt und sahen Scott nur, wenn wir uns trafen, um an Musik zu arbeiten oder Konzerte zu spielen. Wir hatten keine Ahnung, wie die Realität für seine Familie aussah, wenn wir nicht da waren. Nach Scotts eigenem Eingeständnis war sein Missbrauch absichtlich, gezielt und ein streng gehütetes Geheimnis – selbst vor denjenigen von uns, die ihm am nächsten standen. […] Als wir von seinem Missbrauch erfuhren, war es schwierig, diese schreckliche Information mit der Person in Einklang zu bringen, die wir zu kennen glaubten. Es ist nicht überraschend, dass er den Missbrauch so lange verheimlicht hat, denn es ist ein Verrat an unseren ethischen Grundsätzen als Bandmitglieder, Partner, Eltern und menschliche Wesen.“
Einsicht ist doch bekanntlich der erste Weg zur Besserung, oder etwa nicht? Wenn es um Kelly geht, vertritt das Vierergespann eine eindeutige Meinung:
Sein Statement sei „bloß ein weiterer Versuch der Manipulation“
„Ohne auf die Anrufe, SMS oder E-Mails seiner Bandkollegen und Freunde zu antworten, hat Scott nun eine öffentliche Stellungnahme zu der Situation abgegeben. Wir halten diese Entscheidung für einen weiteren Versuch der Manipulation, eine weitere Gelegenheit für seinen Narzissmus, die Geschichte zu kontrollieren. Erlaubt Scott nicht, dass es hier um ihn selbst geht, es geht um den Missbrauch, den seine Familie erlitten hat. Normalerweise würden wir öffentliche Transparenz und Ehrlichkeit in Bezug auf psychische Erkrankungen als mutig und sogar hilfreich ansehen. Wir glauben aber einfach nicht, dass dies hier der Fall ist.“
Ihren Frust und die noch immer vorherrschende Fassungslosigkeit bringen sie in geballter Form so auf den Punkt:
„Es ist nicht mutig, seine Frau und Kinder systematisch zu missbrauchen. Es ist nicht mutig, ein Fehlverhalten zuzugeben, wenn man nicht daran gearbeitet hat, sein Verhalten zu ändern. Und es ist nicht mutig, mit seinen engsten Freunden und Bandkollegen, die einen die meiste Zeit des Lebens unterstützt und zu einem gehalten haben, nicht offen oder gar mehr zu sprechen.“
All der Bandtragik zum Trotz – in Gedanken sind die Musiker bei Kellys Familie und allen anderen Betroffenen, die sich in einer ähnlichen Notlage befinden:
„Verglichen mit den Auswirkungen von Scotts Handlungen auf seine Familie sind die Auswirkungen auf unsere Band von geringerer Bedeutung. Dennoch trauern wir mit dem Herzschmerz und dem Entsetzen auch um den Verlust unseres Lebenswerks und eines Vermächtnisses, das uns heilig war. Auch hier gilt unsere größte Sorge der Sicherheit und dem Wohlergehen von Scotts Frau und Kindern sowie allen anderen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.“
Kennst du eine Person, die von häuslicher oder sexueller Gewalt, physischen oder psychischen Missbrauchs betroffen ist oder befindest dich selbst in jener Situation?
Auf der Seite des Weißen Rings findest du Hilfsangebote, sowie nähere Informationen zu dem Thema.
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