Bereits während der Fahrt zum Festival wird man standesgemäß begrüßt. Zwei jugendliche Metaller stehen an der Bushaltestelle der Hauptstraße nach Büddenstedt im Landkreis Helmstedt und salutieren anscheinend jeden Autofahrer, den sie für einen Besucher des Festivals halten, mit der Pommesgabel. Man salutiert locker aus dem Handgelenk zurück, fast schon reflexartig, weil sich dies so gehört. Und auch wenn es sicher unbeabsichtigt war, gibt es dem ortsunkundigen Besucher die Gelegenheit, genau in die Richtung zu blicken, in der ein kleines, recht unscheilbares Schild in Form eines Pfeiles am Straßenrand hängt, das in Richtung Helmfest weisen soll. Eine Nebenstraße, die eigentlich direkt zum Friedhof führt, heute aber darüber hinaus. Hat man die letzte Ruhestätte lokaler Persönlickeiten umfahren, führt ein holpriger Feldweg auf das eigentliche Veranstaltungsgelände.
Der Feldweg sollte nur links befahren werden; ein zweckentfremdetes Schild – auf der nicht sichtbaren Rückseite steht der Weg zu einem Impfzentrum – weist ausdrücklich darauf hin. Er ist eigentlich als ein Arbeitsweg für landwirtschaftliche Maschinen gedacht, teils mit Granitsteinen gepflastert, die nach Jahrzehnten der Belastung tiefe Spurrinnen in den Boden gedrückt haben, doch heute soll es Besucherinnen und Besucher aus ganz Deutschland auf das Helmfest geleiten. Das erste echte Metal-Geräusch ist das Kratzen des Auspuffrohrs am Feldwegboden. Die Totenruhe des naheliegenden Friedhofs dürfte allein dadurch bereits gestört sein.
Ökologisch sinnvoll
Hat man diesen steilen Weg hinter sich gelassen, offenbart sich das gesamte Festival-Gelände auf einem Blick. Es ist tief in die niedersächsische Landschaft eingestampft, nur wenige Hundert Meter Luftlinie von der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt entfernt. Hier beginnt die sogenannte Magdeburger Börde. Ackerfläche mit 100% Bonität, worauf ein freiwilliger Helfer (anscheinend mit landwirtschaftlichem Familienhintergrund) nicht ganz ohne lokalen Stolz hinweist. Dank des Metal-Festivals dürften es jetzt wohl 110 % sein, um sich (im übertragenden Sinne) einem alten Gag aus dem Kultfilm ‘This is Spinal Tap’ (1984) zu bedienen. Veranstalterin Rebecca Börner-Pach weist darauf hin, dass das gesamte Festival-Gelände allerdings jährlich rotiert; jedes Jahr wird ein anderer brachliegender Acker bespielt.
Das ist tatsächlich ökologisch sinnvoll. Nach der Säuberung kann sich die Natur erholen und weiterhin landwirtschaftlich genutzt werden, ohne dass Ackerland verloren geht. Die Erholung bedarf der Boden auch. Fast zwei Wochen hat es nicht ausreichend geregnet. Der trockene Ackerboden steigt bereits beim ersten Fußabdruck auf. Der gesamte Bühnenvorplatz ist von einer feinen, aber elegant im Sonnenuntergang tanzenden Staubschicht umhüllt, die zum Takt des wummernden Sounds und den Bewegungen des Publikums mitzutanzen scheint.
Historie auf der Bühne
Night Laser heißt die Heavy-Glam Metal-Band, die am Donnerstagabend auf der Bühne steht und den Zuhörern ordentlich einheizt. Ihre Fans, liebevoll Laserheads genannt, werden von der energetischen Performance des Frontmanns Benno regelrecht aufgepowert. Solange, bis die Sonne verschwunden und ein tatsächlich blutroter Vollmond aufgezogen ist. Night Laser, die nur zwei Tage später in der Schweiz auftreten sollen, sind nicht die letzte Band des ersten Tages, aber sicher einer der Höhepunkte des gesamten Festivals, dem auch nur die britische Band Airforce direkt folgen konnte, die sich ganz dem New Wave Of British Heavy Metal verschrieben haben. Damit begibt sich somit auch etwas Historie auf die Bühne des Helmfests. Airforce-Leader Doug Sampson war von 1978 bis 1979 bekanntlich der Drummer von Iron Maiden.
Der erste Festival-Tag endet in einer rauschenden Metal-Party, die ihre bekannten „Opfer“ fordert. Am frühen Mittag des zweiten Tages torkeln vom Zeltplatz bereits die ersten Fans in Richtung Infield. Sichtbar von der wohl exzessiven letzten Nacht gezeichnet, aber deswegen nicht weniger enthusiastisch. Betritt man erwähnten Zeltplatz, offenbart sich die typische Festival-Architektur aus symmetrisch angeordneten Autos und Camping-Pavillons. Manche recht spartanisch oder zweckgebunden eingerichtet, andere wiederum etwas pompöser. An einem Platz haben sich Besucher gar ihren eigenen Kühlschrank mitgebracht. Ganz so weitsichtig ist der 17-jährige Noah in der Vorbereitung noch nicht gewesen, dessen Equipment lediglich aus einem Schlafsack besteht. Es ist sein erstes Festival und damit eine Lehrstunde für ihn. Bereits nach der ersten Nacht hat auch er verstanden, dass Ackerboden nicht nur staubig, sondern auch hart sein kann.
Ausschweifende Diskussionen
Eine Erfahrung, die auch Festival-Besucher Stefan (41), Ingo (41) und Marc (41) gemacht haben, als sie anno 1999 zum ersten Mal gemeinsam nach Wacken aufbrachen. Damals vollkommen unvorbereitet, dadurch aber von Erfahrungen geprägt, von denen sie noch heute zehren können („Wir hatten noch keine Pavillons und keine Stühle. […] Haben aber schnell dazu gelernt. Uns optimiert.“). Ganz am Ende, vor einem offenen Feld, haben sie ihr Lager aufgeschlagen. Gemütlich auf Camping-Stühlen sitzend, resümieren sie über den vergangenen ersten Tag und philosophieren über die in diesem Moment wirklich wichtigen Dinge des Lebens: Die Bedeutung von weißen Haribo-Bärchen für den Gesamtgeschmack der ganzen Packung. Diskussionen, die in dieser ausschweifenden Art nur auf Festivals abgehalten werden. Wohl ein Anzeichen dafür, dass man in dieser Umgebung alle Sorgen des Lebens für kurze Zeit von sich abfallen lassen kann. Vor ihnen thront auf einem Baumarkt-Tisch ein klassisches Festival-Buffet, bestehend aus halb leer getrunkenen Plastikflaschen, Discounter-Bierdosen und aufgerissenen Junkfood-Verpackungen. Ein Anblick, an den sich selbst die Geschmacksnerven sofort erinnern, wenn man denn jemals ein Festival besucht hat.
Die Gruppe gehört zu den Urgesteinen der Metal-Fan-Szene des Landkreises Helmstedt. Ihre Karrieren begannen klassisch im Party-Keller der Eltern, brachten sie als Fans auf die größten Festivals Deutschlands und auch als offizielle Supporter und Crew-Member lokaler Musikgruppen ins Ausland. Sie haben alles gesehen und vieles erlebt. Die legendärsten Bands auf den größten Bühnen der Welt und die eigenen Kumpels auf Spanplatten, die von leeren Bierkästen erhöht wurden, in Kneipen stehend. Nach mehr als 25 Jahren an Erlebnissen bevorzugen sie nun die kleineren Festivals. Eben wie das Helmfest.
„Große Festivals sind auch mehr so Kommerz. Da spielen sicher auch attraktivere Bands […], aber du hast halt auch viele Festival-Touristen, […] die nicht so wirklich Metal sind. […] Zum [Helmfest] kommen Leute hin, die sich auch wirklich dafür interessieren.“ Stefan (41), regionaler Metal-Fan
Reviermarkierungen
Marc ist mit seiner ganzen Familie angereist. Seine Kutte wird von den Narben längst vergangener Partys, Konzerte und Festivals zusammengehalten. Fast ein Vierteljahrhundert ist diese bereits alt. Der Verschleiß jeder einzelnen Naht kann eine eigene Geschichte erzählen. Seine Tochter Merle, gerade einmal vier Jahre alt, trägt nun auch bereits passend zum Festival eine eigene Kutte, die nicht nur das Krümelmonster, den Krawallbruder der Sesamstraße, ziert, sondern natürlich auch Animal, den Drummer der Muppet-Band Dr. Teeth And The Electric Mayhem. Staunend, mit aufgerissenen Augen und an der Hand ihrer Metal-Mother Marietta (40), Marcs bessere Hälfte, flaniert sie über ihr erstes Festival, während ihre große Schwester Melissa („Fast 12!“) den Zeltplatz mit ihren Zeichnungen nicht nur verschönert, sondern auch namentlich das für ein Wochenende eroberte Revier markiert.
Dieser kleine Camping-Pavillon, umrandet von Autos, ist nicht einfach nur eine kurzfristige Unterbringung, für diese drei Tage stellt es ein Zuhause für mehrere Generationen dar. Ingo, der einzige Junggeselle unter der Truppe, kam extra aus Hamburg angereist. Aus beruflichen Gründen zog es ihn vor wenigen Jahren in den Norden, doch der Heimat blieb er stets treu. Es findet quasi eine eigene kleine lokale Reunion von Metal-Fans aus dem nur wenige Kilometer entfernten Dorf Esbeck statt.
„Da fehlt das Gefühl. Das ist nicht mehr echt [und] authentisch.“ Marietta (41), regionaler Metal-Fan, über die Mega-Festivals
Zu dieser gehört auch Jan (42), Spitzname Floyd. Vor (fast genau) 25 Jahren hat er dem Autor dieser Zeilen mit dessen erster Bierdusche im Esbecker Jugendclub – dem fensterlosen Keller einer lokalen Sportkneipe – im Namen des Metal getauft. Heute wird er von seinen drei mitgereisten Kindern aus dem aufblasbaren Pool nassgespritzt. Er spielte bereits als Jugendlicher in der lokalen Death Metal-Band Bloodshed (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Christian Rock-Band aus Kalifornien), besuchte unzählige Konzerte und Festivals und war als Sanitäter gar beim Wacken Open Air mehrmals im Einsatz. Ein Festival, welches von den schieren Dimensionen mittlerweile nur noch überwältigend erscheint.
Familiär
Auch wenn Floyd voller Begeisterung auf seine Zeit in Wacken und mit „tiefstem Respekt“ vor der Leistung der Organisatoren zurückblickt, so empfindet er das Helmfest als angenehm familiär. Nicht nur, weil jeder seinen eigenen Nachwuchs unbesorgt mitbringen kann („Zum Höhepunkt hatten wir hier sieben Kinder im Lager.“), sondern auch echte Kontakte, vielleicht sogar Freundschaften, noch mit Zeltnachbarn entstehen können. Es sei ein Festival, bei dem man selbst mit den Bands nach dem Auftritt noch ein Bier trinken kann. Man müsse nicht eine Stunde bis zum Infield laufen und demnach seinen gesamten Tag vorab planen, sondern könnte die Bands gar vom Zeltplatz bestaunen. Und wenn man eine Band hört, die einem gefällt, kann man flugs zur Bühne laufen und sie live genießen, erwidert Marietta (40). Ihr Ehemann Marc nickt zustimmend zu. Aufgrund der perfekt erscheinenden Anhöhe, überlegten beide sogar, ihre Campingstühle auf das Dach ihres Vans zu stellen, um die Bühne vom Zeltplatz aus zu bestaunen, während die Kinder seelenruhig unter ihnen schlafen.
„Ich mag halt die kleinen Festivals lieber, weil es so ein bisschen ruhiger und nicht so extrem überlaufen ist. Du hast genügend Platz, du hast kein Problem einen Parkplatz zu finden. Alles easy. Du kannst in drei Minuten ins Infield. Du brauchst nichts zu planen.“ Ingo, Festival-Besucher
Die Idee, ein eigenes, mehrtägiges Metal-Festival mitten in der niedersächsischen Provinz abzuhalten, kam dem Veranstalter-Team um Henning Zander, Björn Sommerfeld, Sebastian Pach und Rebecca Börner-Pach bereits 2019. 2020 sollte die Premiere stattfinden; die Coronapandemie hat dies allerdings zunichtegemacht. Dafür hat der Krisenstab des Landkreises Helmstedt für das Jahr 2021 die Genehmigung erteilt. Natürlich gab es Skeptiker. Man wurde eben belächelt, fügt Rebecca Börner-Pach hinzu, aber das erste Helmfest war ein voller Erfolg; auch Dank zahlreicher freiwilliger Helfer. Ohne diese – mehr als 50 Personen – wäre das Festival nicht möglich, so Björn Sommerfeld. Sie alle arbeiten unermüdlich, um das Helmfest nicht nur Realität, sondern für alle Besucherinnen und Besucher zu einem Erlebnis werden zu lassen.
Perfekte Einheit
Ehrenamtliche Arbeit wird im Landkreis Helmstedt großgeschrieben. Nicht nur beim THW, dem DRK, der Freiwilligen Feuerwehr, unzähligen Sportvereinen, sondern eben auch im kulturellen Bereich. Diese Verbindung aus Ehrenamt und Heavy Metal klingt zuerst paradox und bedurfte gegenüber einiger lokaler Behörden anfangs etwas Überzeugungsarbeit, doch ergibt letztlich eine perfekte Einheit. Es gibt einen Zusammenhalt innerhalb der Metal-Szene, der sich vor allem aus gegenseitigem Respekt für dieselbe Passion nährt.
„Es sind alles Leute mit demselben Hobby und das ist Metal. Und das verbindet natürlich und dementsprechend hast du hier auch nicht so viele Vorfälle, so viele Reibereien wie auf einem Altstadtfest. Da kommen Leute jedwedes Alters, jedweder Couleur hin und Hobbys, und was auch immer, und bei Metal vereint halt die Musik.“ Björn Sommerfeld, Mitveranstalter „Helmfest“
Dies spürten nach der ersten Ausgabe auch die lokalen Dienststellen, die wohl anfangs schlicht nicht wirklich wussten, was auf sie zukam, und nun im Nachhinein nicht nur überrascht, sondern mittlerweile vollends überzeugt sind. Es gab beim ersten Festival anno 2021 nicht einmal einen Anruf wegen Lärmbelästigung und dies, obwohl man das Festival bis in die Kleinstadt Schöningen, rund sechs Kilometer entfernt, hören konnte.
Die Zusammenarbeit hat sich gelohnt. Der Ablauf des zweiten Helmfests erscheint noch während der Veranstaltung als absolut reibungslos. Dies sehen nicht nur die Besucher so – über sechshundert Metal-Fans aus ganz Deutschland sind angereist –, sondern auch die Bands, von denen zahlreiche aus dem Ausland kommen. Sie alle besitzen teils jahrzehntelange Festival-Erfahrung in unzähligen Ländern, haben in kleinen Kneipen als auch auf großen Events gespielt, traten im Fernsehen oder in Jugendclubs auf, und sind sich einhellig einig, dass das Helmfest perfekt organisiert sei.
„Die Organisation ist super. Die Betreuung der Band – alles! Das sagen selbst die Bands, die auf größeren Festivals mitspielen, dass sie sich selten so gut betreut gefühlt haben.“ Marc, Bassist von Sheepshot
Jubiläen und Premieren
Elvenking aus Italien hat es genauso nach Büddenstedt verschlagen wie Silent Winter aus Griechenland, die erstmalig deutschen Boden bespielten. Somit kann das Helmfest bereits eine Premiere für sich verbuchen. Ganz so weit angereist waren Servator und Wolfs Moon nicht. Beide Bands stellen lokale Größen dar, die Power Metal-Band Wolfs Moon wird dieses Jahr gar ihr 30. Jubiläum feiern. Ganz standesgemäß im Schützenhaus Helmstedt. Auf so viele Arbeitsjahre können Blessed Child aus Braunschweig noch nicht zurückblicken. Erst vor zwei Jahren gegründet, stellt das Helmfest eines ihrer ersten größeren Festivals dar, und sie sind dankbar für die Gelegenheit. Als sie am dritten Festival-Tag zur Mittagszeit die Regler aufdrehen, durfte auch der letzte Metaller von der Luftmatratze erwacht sein (außer Noah, der hat ja keine …).
„Wir freuen uns, weil kleine Bands wie wir, werden nicht unbedingt auf den großen Festivals gebucht. […] [Gerade dieser Underground-Gedanke] ist auch das, was die Metal-Community eigentlich ausmachen sollte.“ Steve, Sänger von Blessed Child
Man ist dann doch abgekämpft. Drei Festival-Tage spürt man in den Knochen. Und während der junge Metal-Nachwuchs der Region noch voller Energie gewisse ungezwungene Albernheiten pflegt, indem er sich leere Pappkartons als Helme über den Kopf stülpt und mit einem Besen über das Gelände fegt, schläft Ingo tief und fest auf zwei zusammengeschobenen Klappstühlen. Das Leben fordert seinen Tribut. Melissa, Marc und Mariettas Tochter, hält diesen Moment mit einer Zeichnung fest, in der sie ihn als Dinosaurier liebevoll karikiert. In den Augen der Kinder ist das Festival ein übergroßes Abenteuer. Das eingezäunte Infield eine Festung, die Bühne eine Burg und ein schlafender Metaller eben ein Dinosaurier, den in diesem Moment vielleicht nur die Melodic-Death-Trash-Klänge von Act Of Creation wieder zum Leben erweckt haben.
Die Wolfsburger Band, erst im Jahre 2018 gegründet, ist vom Helmfest begeistert und nimmt sich für ihre Fans ausgiebig Zeit. Ein vorbereiteter Stand in Nähe der Bühne ermöglicht es den Bands, nicht nur einfach Merchandise zu verkaufen, sondern auch in direkten Kontakt mit den Besucherinnen und Besuchern zu treten.
„Das ist natürlich auch etwas Besonderes, wenn du mit den Leuten hier sprechen kannst. Auf einmal stehen hier so viele Leute am Merch-Stand und du quatschst mit denen und du hörst dann: ‚Boah, ihr wart die geilste Band‘. Das kann man gar nicht in Worte fassen.“ Jess, Sängerin von Act Of Creation
Meer aus Fäusten
Während Jess noch mit den zahlreichen (und sicher auch neu gewonnenen) Fans spricht, sind Marc, Marietta, Floyd, Stefan und Ingo indes mitsamt Kindern zum großen Finale ins Infield gekommen. Ingos Ansprüche sind hoch („Jetzt brauchen wir [musikalisch] noch mal richtig in die Fresse und hardcore.“), die Hamburger Death Metal-Band Endseeker könnte diesen Hunger zumindest harmonisch gestillt haben. Denn nach ihrer enorm kraftvollen Performance, die in einem Meer aus in den Himmel gestreckten Fäusten endet, bleibt Ingo nur noch eines zu sagen: „Jetzt entweder Pommes oder nach Hause.“ Man entscheidet sich für die Pommes, das in Fett getränkte Dopamin eines jeden Festivals, und somit für den Verbleib, sodass auch die finale Band des Festivals, Stesy aus Österreich, sich seinem kritischen Gehör unterwerfen kann.
Ihre Bühnen-Performance steht im Gegensatz zu ihrer Musik, die sie selber als Trancecore bezeichnen. Ihr Auftritt ist in neonleuchtenden Farben gehüllt, die den Kunstnebel und aufgewirbelten Staub des Ackerbodens durchdringen. Sie spielen mit den Erwartungen der Zuschauer, kokettieren mit deren Erwartungshaltung – als Gag wird gar ein Pop-Song kurz angespielt – und den Standards des Genres. Dieser absurd heftige Kontrast, den Stesy präsentieren, darf nicht funktionieren, und tut es auf seine ganz eigene Weise trotzdem. Bei ihrem ersten Song steht nur noch eine Handvoll Metaller vor der Bühne, bei ihrem letzten Lied – und somit auch dem Abschluss des Festivals –, ist der Bühnenvorplatz gefüllt. Nachdem die Bühnenlichter ausgehen, sind allerorts verschwitzte, verdreckte und erschöpfte, aber eben auch zufriedene Gesichter zu sehen, die nach und nach Richtung Zeltplatz wandern. Vorbei an einem Banner, welches bereits Helmfest 3 für August 2023 ankündigt.
Die dritte Ausgabe ist somit längst in Planung, die ersten Bands schon angekündigt. Laut Veranstalter Björn Sommerfeld will man gerne etwas wachsen. Eines der nächsten Wunschziele sei es, bis zu eintausend Besucherinnen und Besucher für das Festival begeistern zu können. Dennoch will man sich nicht überheben und realistisch bleiben. Erst einmal denkt man weiter klein, wie Rebecca Börner-Pach betont. Denn das gesamte Festival wird trotz der Unterstützung von großzügigen Sponsoren und vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern zu einem bedeutenden Teil in Eigenleistung gestemmt und von einem kleinen Verein getragen, deren Mitglieder letztlich mit ihrem Privatvermögen haften. Jetzt, nach Mitternacht bei Vollmond, scheinen diese Sorgen aber erst einmal vergessen zu sein. Zumindest bei der nun neugeborenen Generation an Metal-Fans im Landkreis Helmstedt. Denn zu diesem Zeitpunkt schlafen Melissa und Merle schon längst ruhig und gemütlich in einem Van auf dem Zeltplatz. Ihr erstes Metal-Festival ist vorbei. Merles Kutte hat die Taufe überstanden. Und vielleicht wird diese eines Tages von genauso vielen Erinnerungen zusammengehalten wie die Kutte ihres Vaters Marc. Eine von diesen Erinnerungen könnte an das Helmfest 2022 sein.
Festung im Sturm
Der Weg vom Festival auf die nächste befahrbare Landstraße gestaltet sich schwieriger als die Auffahrt. Abermals muss ein verschlungener Feldweg in Schrittgeschwindigkeit bezwungen werden. Diesmal aber wenigstens nicht alleine. Stefan nutzt die Mitfahrgelegenheit und ist als Beifahrer dabei. Das letzte Mal, dass wir ein Festival gemeinsam verließen, war das Wacken Open Air im Sommer 2000. Es war kein Feldweg bei Nacht, sondern die Autobahn an einem Sonntagnachmittag. Damals war Wacken natürlich noch kleiner, mit „übersichtlichen“ 25.000 Besuchern. Der Weg vom Feldplatz zum Infield dauerte zehn Minuten, die Zeit vom elften Wacken Open Air bis zum zweiten Helmfest hingegen 22 Jahre. Alles hat sich verändert, und doch ist vieles gleich geblieben. In diesem Moment, als das Auto über den dunklen Feldweg holpert, fühlt es sich so an, als ob kein einziger Tag seitdem vergangen ist.
Man wirft Metal oft vor, dass er nicht innovativ genug sei, dass seit vier, teils gar fünf Jahrzehnten die gleichen großen Namen die Szene dominieren würden. Doch der Charme liegt nicht in der Vergangenheit begraben. Es ist keine ewige Nostalgie, die begeistert, sondern stete Kontinuität. Ein Fortbestehen von Etabliertem, eine Zelebrierung von Bewährtem. Für viele Musikliebhaber ist Metal eine bedeutende Konstante im Leben. Ein Lebensstil, der jedem Trend oder Hype trotzt. Eine Festung, die jeden Sturm standhält. Eine Familie, die zusammenhält und zu der man stets zurückkehren kann. Egal, wie viele holprige Wege man dafür überwinden muss.
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