Die Neunziger waren eine – milde gesagt – sehr wilde Zeit für den Metal. Unheilige Fusionen aus Rap und metallischen Klängen, die Entstehung von unzähligen musikalischen Abspaltungen oder die schlimmsten den Menschen bekannten Outfits. Das alles gehört zu den Neunziger Jahren. Aber auch das wiederauferstandene Interesse an Vampiren. Zumindest sieht es danach aus, wenn man in die Januar-Ausgabe des METAL HAMMER im Jahr 1998 blickt.
Der neue Vampirkult
In der besagten Ausgabe widmete der damalige Chefredakteur Robert Müller nämlich ein ganzes Special den Blutsaugern. Oder, besser gesagt: Dem Pop-kulturellen Boom, den sie damals ausgelöst haben. Musikhistorisch gesehen sollte es einen eigentlich nicht überraschen. Ende der Neunziger waren die Fangzähne der Gothic-Szene, wie so viele Subkulturen vor ihr, in das kollektive Mainstream-Bewusstsein eingedrungen. Auf Grusel getrimmte Bands wie Moonspell, Cradle Of Filth oder Umbra Et Imago waren äußerst populär, und wer könnte schon die ganzen „sexy“ angegotikten Vampirfilme wie ‘Interview mit einem Vampir’ oder ‘Bram Stoker’s Dracula’ vergessen? Wagen wir einen Blick in die METAL HAMMER-Gruft:
„Wir haben diese Ästhetik für Moonspell benutzt, weil es so großartig theatralisch ist. Die Bilderwelt der Vampirgeschichten ist sehr bunt und allen bekannt, so dass sich das Publikum ganz leicht mit dem Gesehenen identifizieren kann“, steigt der Artikel mit einem Zitat des Moonspell-Frontmanns Fernando Ribeiro ein. Eine gut gewählte Personalie, denn der Portugiese wackelte zu jener Zeit gerne in einem Fledermaus-Cape über die Bühne.
Seit der Veröffentlichung von Bram Stokers Gruselklassiker ‘Dracula’ hat der blutsaugende Geselle aus Transsilvanien einen langen Weg durch verschiedene Genres der Unterhaltungskultur zurückgelegt. Dabei dauerte es relativ lange, bis er seinen Platz im musikalischen Untergrund fand. Der Wendepunkt kam 1981, als die britische Gothic-Band Bauhaus den Song ‘Bela Lugosi’s Dead’ veröffentlichte. Dieser Song, eine Hommage an den legendären Darsteller der Universal-Filmstudios aus den Dreißiger Jahren, schuf eine neue Ästhetik in der aufkommenden Grufti-Szene.
Ewige Liebe und Eskapismus
Im Artikel erinnert sich auch Lacrimosa-Keyboarderin Anne Nurmi an den großen Vampir-Boom. „Das war für uns eine richtige Lebensphilosophie. Ich trug altmodische schwarze Kleider, wir waren nur nachts aktiv und haben vom ewigen Leben und ewiger Liebe geträumt.“ Klingt genauso kitschig wie die Filme, die durch diese Philosophie inspiriert wurden.
Weniger kitschig wird es bei den Erinnerungen an schräge Vampir-Fetischisten, die auf Metal-Konzerten herumlungern. So erzählt das Paradise Lost-Mitglied Greg Mackintosh von Fans, die sich selbst für Vampire halten. Oder, noch schlimmer: ihn selbst. Denn wie im Artikel festgestellt wird, gerät die Faszination für die Fledermaus-Freaks schnell aus dem Ruder. Es ist von bizarren Kostümbällen und Rollenspiel-Events die Rede – Hedonismus trifft auf Historienspaß.
„Es gibt immer Leute, die sich ein wenig hinreißen lassen und dann anfangen, Blut zu trinken. Die Presse war logischerweise ziemlich schlecht. Aber die Szene ist noch so neu und wächst so schnell, dass gewisse Irritationen ganz natürlich sind“, weiß auch Baron Joseph der mittlerweile in der Obskurität verschwundenen Düster-Rocker Vasaria.
„Wenn man jung ist, geht man immer gerne ein wenig zu fanatisch an eine Sache ran, die einen begeistert“, meint Nick, Schlagzeuger von Cradle Of Filth, den sie alle nur Onkel Fester nennen, dazu. Für ihn war die Vampirwelt eine Chance, die Band aus den speziell bei Metal-Bands extrem stereotypen Präsentationsformen herauszuführen. „Cradle Of Filth ist Musik und Theater in einem“, erklärt er, und nennt seine einzige Gemeinsamkeit mit einem Vampir seine Vorliebe für das Nachtleben.
Erotik pur
Ein weiterer Punkt, der im Artikel in Bezug auf Vampire als immens wichtig gedeutet wird, ist Sex. „Diese Vampirzirkel sind ehrlich gesagt nicht mehr als Single-Treffpunkte für traurige Grufti-Gestalten“, beschreibt Greg Mackintosh etwas sarkastisch den Kernaspekt einer Organisation namens Thee Vampyre Guild, der er mal angehörte. Der Autor spricht den Vampiren neben dieser profanen Funktion allerdings ebenfalls ein ganz bestimmtes sexuelles Wesen zu: „Sigmund Freud würde sofort das Phallische in seinen extralangen Eckzähnen hervorheben, die er auch noch für eine sexuelle Ersatzbefriedigung einsetzt.“ Definitiv auch eine Deutungsmöglichkeit.
Mozart von Umbra et Imago, die neben Vampirthemen auch eine sehr starke sexuelle Komponente in ihren Songs haben, beschreibt den Typus Dracula so: „Der Vampir ist Einzelgänger, er hat enormen Sexappeal, und seine Sexualität ist eindeutig dominant. Er ist unsterblich und hat – idealerweise – einen Partner, den er nicht verlieren kann. Und, natürlich, täglich Sex, denn die Stillung seines Hungers ist sein primäres Lebensziel.“
Vampirdomänen im Ruhrpott
Anschließend vertieft sich Müllers Artikel auf die Live-Action-Roleplay-Game-Szene. Diese würde man heute am ehesten mit dem Mittelalter- oder Steampunk-Thematiken verbinden – in den Neunzigern gab es aber anscheinend noch ganz andere, der Gothic-Bewegung um Meilen näherstehende, Ausläufer. „Die Spieler organisieren sich in sogenannten Domänen städteweise. Alleine im Ruhrgebiet gibt es zurzeit sieben, und zu Großereignissen wie dem an Halloween stattfinden den Ball des Grauens kommen mehrere hundert Vampire“, schreibt Müller.
Die für Außenstehende kurios erscheinende Faszination an den untoten Lustmolchen fasst er danach in seinem schließenden Absatz noch einmal treffend zusammen: „Der neue Vampirkult ist also nicht mehr als der alte Kult um den Menschen selbst. Andererseits unterscheiden sich Menschen, die spielerisch nach der Aura der Unsterblichkeit und Macht des Fürsten der Finsternis streben, nicht fundamental von solchen, die im ferrariroten Overall auf winzigen Spielzeugautos rasant im Kreis fahren. Letzteres ist gesellschaftlich natürlich eher anerkannt, aber beide Betätigungen werden einem Außerirdischen, der unsere Welt beobachtet, gleich bizarr erscheinen.“
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