Genre-Wechsel kommen bei etablierten Musikern selten genug vor, kristallisieren sich meistens erst über einige Zeit heraus. Rapper Alligatoah legt den Fokus seiner Musik bei seinem neuen Album OFF hingegen deutlich anders auf vorangegangenen Alben: die Metal-Einflüsse sind nicht zu leugnen. Damit bestätigt der Musiker wieder einmal, dass er unserer Szene gar nicht so fern ist, wie man meinen mag. Nach Auftritten in Wacken, wo er für 2024 wieder gebucht ist, einem Slipknot-Cover 2018 und Amon Amarth-Namedropping auf dem Vorgängeralbum ROTZ & WASSER (2022) geht er mit den neuen Songs „all in“. Wie OFF entstand, wie er sich zwischen Rap und Metal positioniert, und welcher Feature-Gast auf dem Hybridalbum ihn in der Entstehung neu inspirierte, erzählt Alligatoah alias Lukas Strobel einfach selbst. Immer dabei: ein gewisses Augenzwinkern, aber auch jede Menge Szeneliebe …
METAL HAMMER: 2007 hast du mit dem Song ‘Musik und so’ (erschienen auf SCHLAFTABLETTEN, ROTWEIN II) ein Streitgespräch zwischen einem Metalhead und einem Hip-Hop-Fan inszeniert, in dem sich die Parteien mit Negativklischees bewerfen. Unter anderem heißt es da: „Eure primitive Mucke ist nur stumpfes Geschrei / Ohne Struktur und immer dieser Lärm, ich brauch Ohropax / Denkt ihr, dass das Wiederholen von einem Wort den Chorus macht?“ 17 Jahre später vereinst du jetzt diese beiden Seiten musikalisch – wie bist du das angegangen?
Alligatoah: Dieser Konflikt, den ich in dem Song darstelle, ist genau der, mit dem ich großgeworden bin. Ich kam aus einem sozialen Umfeld, in dem Rap verschrien war und Punk und Rock als cool galten. Ich habe aber angefangen, mich auch für Rap zu interessieren und fand es schwierig, damit umzugehen, dass das so verhasst war. Ich wollte mich auch vor mir selbst rechtfertigen, warum ich jetzt diese „dumme“ Musik höre und warum ich die „falsche“ Musik mache. Ich habe in diesem Song den Konflikt verarbeitet, in dem ich damals stand, weil ich beides geliebt habe, aber zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager gesehen habe. ‘Musik und so’ ist eine ‘Romeo und Julia’-Geschichte, weil ich mich in beide Richtungen verliebt habe, aber merken musste, dass sich beide Familien bis aufs Blut hassen.
Es ist gut, dass das heute nicht mehr so ist – ich habe den Eindruck, die jungen Leute jetzt machen da keinen Unterschied mehr und finden einfach einen guten Song gut und das Schubladendenken wird weniger.
MH: Auf dem neuen Album OFF (VÖ: 22. März 2024) finden sich generell viele Reminiszenzen an deine alten Songs. So erinnert ‘Ich ich ich’ textlich an ‘Der Barmherzigste’ (SCHLAFTABLETTEN, ROTWEIN IV von 2011), ‘Wer lacht jetzt’ stimmlich an ‘Hass’ (SCHLAFTABLETTEN, ROTWEIN V von 2018). Ist OFF eine Zusammenführung all deiner Phasen, im Leben wie musikalisch?
Alligatoah: Dadurch, dass ich Themen-Songs mache, habe ich mir selbst ein Problem geschaffen. Es gibt ja nicht unendlich Themen, und zu vielen Bereichen habe ich schon Lieder gemacht. Das Sound-Gewand auf dem neuen Album hat mir allerdings die Möglichkeit gegeben, gewisse Bereiche noch mal anzugehen, weil es anders klingt und etwas anderes darstellt. So hatte ich die Chance, einen Song wie ‘Niemand’ zu machen und das Thema Religion noch mal anzufassen. Damals mit IN GOTTES NAMEN (2008, Konzeptalbum, das sich mit religiöser Verblendung und Terrorismus befasst – Anm.d.A.) dachte ich eigentlich, ich hätte Religion durchgespielt und dazu nichts mehr zu sagen.
MH: Witzig, dass du ‘Niemand’ ansprichst. Durch die antireligiöse, nihilistische Sichtweise in den Lyrics hätte das auch ein Black Metal-Song sein können. Dass das Album sich nun als Ganzes eher am Nu Metal orientiert, worauf stützt sich das?
Alligatoah: OFF ist ein Sammelsurium aus allen Metal-Einflüssen, die ich habe, und die liegen nun mal in den Neunzigern und Nullerjahren. Alles, was davor war, Heavy Metal und was Leute „trve“ nennen, dazu habe ich keinen so starken Bezug. Ich habe mir gedacht, wenn ich das Album jetzt so mache, kann ich nur nutzen, was ich wirklich verstehe und mir im Blut liegt, und mir liegt nun einmal im Blut, womit ich aufgewachsen bin. Ich saß früher in meinem Kinderzimmer und habe versucht, die Riffs von System Of A Down und Slipknot nachzuspielen. Ich habe mir die Tabulaturen ausgedruckt und meine Gitarre auf Drop C runtergestimmt. Es klang total scheiße, weil die Gitarre nicht dafür gemacht war und der Verstärker auch nicht genug Gain hatte, aber das war egal, weil ich das Gefühl hatte , ich kann das auch. Daran habe ich angeknüpft.
„OFF ist ein Sammelsurium aus allen Metal-Einflüssen, die ich habe, und die liegen nun mal in den Neunzigern und Nullerjahren.“ – Alligatoah
Ich weiß, dass manche Leute damit nichts anfangen können, weil Nu Metal lange Zeit als uncool galt. Es gibt allerdings zu jedem noch so merkwürdigen Genre eine Gruppe von Menschen, die genau zu dieser Zeit jung ist, damit aufwächst, einen Funken spürt, sich genau in dieser Zeit vielleicht das erste Mal verliebt, prägende Erfahrungen macht, und dann damit ihren Soundtrack bekommt. So werde ich den Nu Metal niemals los. Das Genre hat mich in einer so wichtigen Phase begleitet, dass es egal ist, ob es technisch anspruchsvoll oder als was auch immer verschrien ist. Es war wichtig für mich, und ich bin nicht der Einzige.
MH: Bist du wirklich nicht – auch While She Sleeps greifen beispielsweise auf ihrem neuen Album SELF HELL diese Zeit auf. Der Nu Metal kommt somit ein bisschen zurück. Damit ist deine Musik nun, obwohl sie an die Zeit vor zwanzig Jahren anknüpft, ironischerweise nah am Zeitgeist, so wie es auch deine Texte stets sind.
Alligatoah: Mein Ansatz war, weder ein straightes Nu Metal-Album, noch ein straightes Rap-Album zu machen. Stattdessen wollte ich Elemente aus der Trap-Welt mit Elementen aus der Metal-Welt, mit der ich aufgewachsen bin, verbinden. Das haben Linkin Park im Grunde auch gemacht – damals war es eben eine andere Art von Rap, die sie gesamplet haben, und eine andere Art von Metal. Rap hat sich weiterentwickelt, harte Gitarrenmusik hat sich weiterentwickelt – Vieles bricht zurzeit auf, es passiert Veränderung. OFF ist jetzt also mein Take, ein Hybrid – und ich wusste anfangs nicht, welche Seite gewinnt.
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Am Ende ist es Rock-lastiger geworden, die Seite mit den verzerrten Gitarren und Doublebass hat gewonnen, was ich gut finde, aber die andere Seite ist genauso vertreten. Ich kann bei dem Sound guten Gewissens sagen, der ist fett und muss sich nicht verstecken. Aber er kommt auch nach wie vor von mir, aus meinen Entscheidungen und Vermischungen von Sachen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören.
MH: Du growlst und screamst sogar auf dem Album.
Alligatoah: Ich habe dummerweise den Fehler gemacht, das Album aufzunehmen, bevor ich wirklich Technik dazu hatte, zu schreien. Kenner werden das hören, aber mir war das in dem Moment egal. Es war eine Momentaufnahme davon, wie ich mich da gefühlt habe – das musste raus. Jetzt vor den Auftritten gehe ich zum Vocalcoach und lerne die Techniken, damit ich mir nicht die Stimme zerschieße.
MH: Du spielst auch in der Promo mit der Metal-Seite, obwohl das Album nicht direkt als Metal-Album vermarktet wird. Schließlich gibt es auf dem Album auch Features von Bausa und Tarek von K.I.Z. …
Alligatoah: Das ist ähnlich, wie ich diesen Hybrid angegangen bin. Ich habe mit Fred Durst und den Guano Apes zwei Features aus der Band-Crossover-Welt und wollte dann auf der anderen Seite Features aus der Rap-Welt reinholen, von denen ich aber weiß, dass sie sowohl starke, technisch versierte Rapper sind, als auch Verständnis für das Genre haben. Bausa ist genauso mit Limp Bizkit und Linkin Park aufgewachsen wie ich, der weiß das zu schätzen.
MH: Wie bist du denn für das Feature in ‘So raus’ an Fred Durst von Limp Bizkit herangetreten?
Alligatoah: Er war mir gar nicht im Kopf, als ich den Song geschrieben habe. Der Song war ohne ihn fertig. Dann allerdings tauchte ein gemeinsamer Bekannter auf, der den Kontakt hergestellt hat, und wir sind uns bei Rock am Ring 2023 begegnet. Ich hatte alles dabei, ganz Rap-mäßig, ein mobiles Studio mit Mikrofon und Kopfhörern. Die Sterne standen günstig und er hatte einen Moment Zeit. Es war zwei Stunden vor seinem Auftritt, dementsprechend hoch rechne ich ihm das an. Wenn ich zwei Stunden vor meinem Auftritt stehe und jemand aus einem anderen Land kommt und einen Song mit mir machen will, würde ich lachend rückwärtslaufen. Aber er hat es einfach gemacht, weil er den Moment gefühlt hat. Mich hat das bereichert: Seine Arbeitsweise hat mich inspiriert, dass er die Entscheidung aus einem Impuls heraus gefällt hat und einfach eine geile Strophe hinlegen konnte. Das finde ich beneidenswert, denn ich habe oft nicht diese Spontaneität und verkopfe viel zu lange. Ich stand da mit offenem Mund, als er seinen Part in unter einer Stunde geschrieben und eingerappt hat.
„Fred Dursts Arbeitsweise hat mich inspiriert, dass er die Entscheidung aus einem Impuls heraus gefällt hat und einfach eine geile Strophe hinlegen konnte. Das finde ich beneidenswert, denn ich habe oft nicht diese Spontaneität und verkopfe viel zu lange.“ – Alligatoah
MH: Das heißt, obwohl du in der Vergangenheit bereits englische Zeilen hattest, waren die ursprünglich nicht Teil von ‘So raus’?
Alligatoah: Nein, Fred hat das selbst geschrieben. Er hat sogar angeboten, die deutsche Bridge zu singen, und ich habe ihm die Sätze vorgesprochen – „Ich falle, ich falle aus der Zeit“. Wir haben es auch probiert, es klang nur leider etwas klamaukig, also ist es beim „so raus“ geblieben. Mir hat es trotzdem gezeigt, dass er nicht nur Dienst nach Vorschrift macht, sondern dass er Bock hat, was Geiles zu machen, das sich wie ein gemeinsamer Song anfühlt, und genauso war auch der Kontakt hinterher noch. Wir haben die Mix-Versionen ausgetaucht und er hat seine Ideen eingebracht. Er ist also nicht nur auf den Zug aufgesprungen, sondern auch Teil der Entstehung.
MH: Hast du dich als Rapper vorgestellt oder als Crossover-Artist?
Alligatoah: Als deutscher Pop-Rapper, der jetzt seine wilde Seite entdeckt. Was ihn aber im Endeffekt abgeholt hat, waren weder meine Zahlen und Reichweite, noch die Sätze, mit denen ich mich vorgestellt habe, sondern das Outfit, das ich bei meinem letzten Auftritt am Ring (2022 – Anm.d.A.) anhatte – unser gemeinsamer Bekannter hat ihm Videos gezeigt. Ich hatte eine weite Bundfaltenhose an, ein Torero-Jäckchen, einen weißen Schal und Goldketten. Nicht sonderlich Metal-lastig, aber es hat sich gelohnt, denn ich habe Fred Durst damit überzeugt, mich kennenzulernen.
MH: Wieso eigentlich OFF?
Alligatoah: Ich fand den Gedanken spannend, ein Album zu veröffentlichen, während man nicht da ist, post mortem, obwohl man noch am Leben ist. Ein Album aus dem Off. Deshalb habe ich mir eine ganze Promophase darum ausgedacht und musste leider auf der Bühne in Köln (Tournee-Abschluss im November 2023 – Anm.d.A.) andeuten, dass jetzt etwas Großes, Neues passiert. Das würde ich wieder tun, auch wenn es mir leid tat für die ersten zwei Reihen im Publikum, die bitterlich geweint haben. Aber wenn es darum geht, eine schöne Geschichte zu erzählen und ein gutes Werk zu liefern, gibt es Kollateralschäden wie zum Beispiel die Gefühle meiner Fans. Deshalb schätzen sie mich auch, weil ich keine Rücksicht nehme und als oberste Maxime immer das Werk stelle. Und die Geschichte um OFF besagt eben, dass ich nicht da bin.
MH: Auch jetzt eckst du an, indem du ein Rap-Metal-Crossover-Album veröffentlichst. Vielen Rap-Fans ist die Musik zu hart und einige Metal-Fans wundern sich, obwohl du der Szene nie allzu fern warst …
Alligatoah: Als ich 2022 in Wacken auf der Bühne stand, hat sich gezeigt, dass Kommentarspalten im Internet und die Realität zwei Paar Schuhe sind. Die Metal-Community hat ein Verständnis für mich. Sie begreift, dass ich mich nicht leichtfertig an ihrer Kultur bediene, sondern da meine Wurzeln habe und weiß, was ich tue. Schon bei meinen ersten Songs, als meine Musik vom Metal nicht weiter hätte entfernt sein können, haben mir Leute geschrieben, dass sie eigentlich eher Metal hören, aber mit mir trotzdem etwas anfangen können. Ich glaube, das hat was damit zu tun, dass Metal-Hörer ein Verständnis für Kostüme haben, für Theater und Darbietung. Die checken einfach die Wichtigkeit von einer künstlichen Zauberwelt.
„Metal-Hörer checken die Wichtigkeit von einer künstlichen Zauberwelt.“ – Alligatoah
MH: Hast du Musik durchgespielt?
Alligatoah: Musik kann man gar nicht durchspielen, weil sie immer im Wandel ist. Manche Menschen glauben, dass alle Musikrichtungen existieren und fertig sind und man Sachen nur neu aufkochen kann. Ich glaube das nicht, es geht immer weiter und es wird immer neue Richtungen geben. Ich habe mich vor allem in den Bereichen eingenistet, die mir am meisten am Herzen liegen, und das sind Rap und harte Gitarrenmusik. Da fühle ich mich wohl, das ist meine Komfortzone. Das heißt nicht, dass ich nicht bereit bin, diese Komfortzone auch wieder zu verlassen, aber immerhin weiß ich jetzt, wo mein Zuhause ist.
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