Als Königin Maria I. herrschte Maria Stuart fast 25 Jahre über Schottland, wegen Hochverrats wurde sie mit bloß 45 Jahren hingerichtet. Im 15-sekündigen Film ‘The Execution Of Mary Stuart’ aus dem Jahr 1895 ist ihre Enthauptung zu sehen. Der Regisseur Alfred Clark stoppte die Kamera genau in dem Moment, als das Beil des Henkers in der Luft schwebte – um die Schauspielerin durch eine Puppe zu ersetzen. Damals erschreckte der wirklichkeitsnahe Kurzfilm viele Zuschauerinnen und Zuschauer. Einige glaubten sogar, ‘The Execution Of Mary Stuart’ zeige eine tatsächliche Hinrichtung. Stattdessen handelt es sich nicht nur um den ersten Historienfilm, sondern auch um den ersten Stopptrick der Filmgeschichte.
Der Stopptrick wurde so lange von Filmpionieren weiterentwickelt, bis sich langsam eine neue Technik herauskristallisierte, die bis heute Anwendung findet: Stop-Motion. Bei dieser Technik reihen Filmemacherinnen viele einzelne Bilder, auch „Frames“ genannt, aneinander. Dadurch entsteht eine Bewegung. Einer der ersten Filme, der sich der damals neuartigen Technik bediente, war ‘King Kong und die weiße Frau’ aus dem Jahr 1933. In ‘Sindbads siebente Reise’ (1958) von Ray Harryhausen werden besonders fantasiereiche Sequenzen erst mithilfe von Stop-Motion realisiert. Sicher ist: Bis sie langsam von Computeranimationen abgelöst wurde, spielte die Stop-Motion-Technik eine entscheidende Rolle in der Filmindustrie. Und noch heute erscheinen – trotz des enormen Aufwands – gelegentlich eindrucksvolle Stop-Motion-Filme. Darunter finden sich selbstverständlich auch einige Musikvideos. Im Folgenden stellen wir fünf vor.
Steven Wilson: Zeit
12 Sekunden des Videos entsprechen in etwa einem ganzen Arbeitstag der Animateurin und Künstlerin Jess Cope und ihrem dreiköpfigen Team. Um die Videowelt zu Steven Wilsons ‘Routine’ zu erschaffen, alle Frames abzulichten und das neunminütige Video schließlich fertigzustellen, benötigten sie ganze acht Monate. Das Ergebnis ist die besonders emotionale Geschichte einer Frau, die ihre ganze Familie verloren hat. Um ihre Trauer zu bewältigen, hält sie ihre tägliche Routine weiterhin aufrecht. Cope verfilmte drei weitere Songs von Steven Wilson: ‘Drive Home’, ‘The Raven That Refused To Sing’, außerdem ‘Drag Ropes’. Bei Letzterem handelt es sich um ein Stück, das Wilson mit Mikael Åkerfeldt (Opeth) im Rahmen ihres gemeinsamen Projekts Storm Corrosion veröffentlichte.
Alice In Chains: Chaos der Fliegen
Nicht nur heißt die dritte EP von Alice In Chains JAR OF FLIES, auch spielt ein Glas voller Fliegen die Hauptrolle im Stop-Motion-Musikvideo zur 1994 veröffentlichten Single ‘I Stay Away’. Zu sehen ist ein Puppen-Junge im Hoodie, der – genau wie Jerry Cantrell, Mike Inez, Sean Kinney und Layne Staley auch – mit einem Bus zum Zirkus fährt. Fest umschlossen hält er ein Glas, in dem Fliegen umherschwirren. Auf dem Zirkusgelände angelangt, lässt er diese frei. Sie verursachen pures Chaos: Ein Löwe frisst seinen Dompteur, ein Messerwerfer trifft seine Assistentin, alle Zelte brennen ab. Schlussendlich kehren die Fliegen in ihr gläsernes Zuhause zurück – der Junge lobt sie für den verursachten Tumult. Die Puppen, die der Regisseur Nick Donkin für den kurzen Film verwendete, können in der „Rock and Roll Hall of Fame“ in Cleveland, Ohio betrachtet werden.
Throne: Stofffetzen
Eigentlich hätte man es sich denken können: Stickerei ist sowas von Metal. Schließlich sind all die Band-Patches, die viele Metal-Fans fleißig an ihre Kutten nähen, nichts anderes als: bestickter Stoff. Wer diesen Verbund nur schwer glauben kann, sollte sich das Video zu ‘Tharsis Sleeps’ von Throne ansehen. Für das Stop-Motion-Musikvideo legte sich Nicos Livesey, Throne-Sänger und professioneller Regisseur für Animationsfilme, gleich mehrere Stickmaschinen zu, die auch in der Industrie genutzt werden. In mühevoller und zeitintensiver Stick-Arbeit verewigte er schlussendlich eine farbenfrohe Science-Fiction-Geschichte auf Stofffetzen. Ob all die bestickten Frames als reguläre Band-Patches erworben werden konnten, bliebt allerdings offen.
Sepultura: Kultur
Auch Sepultura haben mit ‘Ratamahatta’ ein Musikvideo im Repertoire, das sich der Stop-Motion-Technik bedient. Zu sehen sind einige Figuren, die in der brasilianischen Kultur und Historie eine bedeutende Rolle spielen. ‘Ratamahatta’ war eine von drei Singles, die im Vorfeld der Veröffentlichung des Langspielers ROOTS (1996), erschien. Kurz nach dem Release des Albums verließ Gründungsmitglied Max Cavalera Sepultura. Noch heute findet der Song auf fast alle Live-Setlists der brasilianischen Thrash-Metal-Band.
Tool: Grundstein
Gleich mit ihrer ersten Single veröffentlichten Tool ein Stop-Motion-Video. ‘Sober’ zeigt eine Figur, die in einer einsamen, kahlen Wohnung haust – und dort auf eine hölzerne Kiste stößt. Zwar wird der Inhalt dieser zu keinem Zeitpunkt des Videos gezeigt, trotzdem ist klar: Was auch immer sich in der Kiste befindet, es verändert das Erleben und Verhalten des düsteren Wesens drastisch. Auf das Video zu ‘Sober’ folgten viele weitere Stop-Motion-Musikvideos von Tool. Beispielsweise wurden für die filmischen Interpretationen der Tracks ‘Ænema’, ‘Stinkfist’ und ‘Parabola’ dieselbe Technik verwendet.