[Der Originalartikel erschien in der Dezember Ausgabe 2013 des METAL HAMMER]
Mit HOLY DIVER setzte sich DIO gleich bei seinem Einstand als Solokünstler ein Denkmal. Wir erinnern uns zum 30. Geburtstag dieses Albums an einen absoluten Metal-Meilen- stein und gedenken mit den Originalmusikern dem 2010 verstorbenen Ausnahmesänger.
Die Voraussetzungen konnten im Grunde gar nicht besser sein: Ronnie James Dio hatte sich bei den Größen Rainbow und Black Sabbath in den zurückliegenden Jahren als Sänger einen Namen gemacht und stand nun vor dem Start seiner Solokarriere. Die Metal-Szene verharrte erwartungsvoll, was der kleine Mann mit der großen Stimme auf seinen Solopfaden zustande bringen würde. Andererseits: Erstmals hatte Dio keine Ikone wie Ritchie Blackmore oder Tony Iommi an seiner Seite, die ihm die passenden Riffs für seine Röhre schmiedet.
Diese Gedankenspiele schwirrten auch im Kopf des Sängers herum. „Das Soloding war ein extrem waghalsiges Unternehmen für mich“, erklärte er einst in einem Interview. „Zieht man etwas auf eigene Faust durch, wird es haarig. Eine Menge Zweifel kamen auf.“ Während der Mischphase des Black Sabbath-Live-Albums LIVE EVIL (1982) kam es zu Unstimmigkeiten zwischen den Band-Mitgliedern. Die Folge: Sänger Ronnie James Dio und Schlagzeuger Vinny Appice verließen Black Sabbath, beschlossen jedoch, künftig weiterhin Musik zu machen. Die ersten Lieder entstanden in dieser Duokonstellation, und zwar in demselben Proberaumstudio in Kalifor- nien, wo auch ein Teil des MOB RULES-Werks von Black Sabbath entstanden war.
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„Wir kannten den Besitzer, er war ein guter Freund. So konnten wir dort in aller Ruhe werkeln“, erinnerte sich Dio an die Anfänge seiner Solo-Band. „Ich wollte ausprobieren, wie es klingt, wenn ich gleichzeitig singe und dazu spiele. Nenn es paranoid, aber mir war es lieber, wenn die Öffentlichkeit nicht mitbekam, was wir da probten. Ich schrieb ‘Holy Diver’ und ‘Don’t Talk To Strangers’ und drosch auf meine Gitarre ein, während Vinny dazu trommelte. Doch nach einiger Zeit kamen wir überein, dass es besser wäre, sich einen ‚richtigen‘ Gitarristen zu suchen.“ Und den fanden sie in Großbritannien.
Die absolute Vollbedienung
Dio erkundigte sich bei seinem schottischen Kumpel und Bassisten Jimmy Bain, ob dieser nicht einen versierten und ambitionierten Gitarristen kenne. Bain hatte gleich zwei Namen auf Lager, deren Tapes er Dio zur Hörprobe zukommen ließ: John Sykes und Vivian Campbell. Besonders Letzterer hatte es dem Sänger angetan. „Sykes war brillant, aber Viv klang ruppiger und direkter.“ Dio und Appice setzten nach London über und buchten zwei Probetage, um an den beiden bereits vorhandenen Song-Ideen zu arbeiten.
Das funktionierte so gut, dass Campbell direkt gefragt wurde, ob er nicht in die Band einsteigen wolle. „Ich war sehr aufgeregt, als das Angebot kam“, erinnert sich Campbell an den damaligen Abend. „Mit zwanzig Jahren war ich damals viel jünger als die anderen Jungs, die für mich allesamt Rockstars waren. Das ist schon etwas einschüchternd gewesen. Aber die Chemie stimmte einfach und wir hatten sofort eine sehr klare Vorstellung davon, wie unser Sound zu klingen hat.“
Zwei Wochen später wurden Bain und Campbell nach Los Angeles eingezogen, um die Arbeiten am Debüt konsequent fortzusetzen. Nach Aussage aller Beteiligten gestaltete sich der Songwriting-Prozess fast schon als „zu einfach“. Die Lieder sprudelten förmlich aus dem Quartett heraus, was zum Teil auch daran lag, dass sich Jimmy Bain und Vivian Campbell in L.A. ein Apartment teilten und quasi permanent Musik spielten. „Viv und ich waren ein Topteam“, beschreibt der Bassist das besondere Verhältnis der Instrumentalisten zueinander. „Wir betraten einen Raum ohne Idee und kamen mit etwas Brauchbarem wieder raus. Die Chemie zwischen uns stimmte einfach. Auch mit Vinny war alles perfekt – Technik, Sound und Einstellung. Sein Drumming saß wie eine eins, die absolute Vollbedienung.“ Die Zeit war ebenso reif wie die Band, um das Aufnahmestudio zu betreten.
„Jimmy Bain war ein richtiges Partytier und nahm sämtliche Ausschweifungen mit. Ich hingegen war total auf meine Musik fokussiert – obwohl ich gebürtiger Ire bin. Man hat schnell mitbekommen, was Drogen mit einem anstellen, deswegen habe ich darauf verzichtet und für die anderen Jungs lieber den Fahrer gespielt.“ Die Aufnahme-Sessions gestalteten sich genauso reibungslos wie das Songwriting. Die Musiker spielten die Songs zusammen live ein, während Dio am Mikrofon locker die Melodien mitsang. Nach einer zufriedenstellenden Aufnahme doppelte Campbell die Gitarren, und das nächste Lied wurde angegangen.
Nachdem die instrumentalen Teile auf Tape gebannt waren, trat Dio vors Mikro, während sich sein Gitarrist um die Soli kümmerte. Um auch wirklich alle Fäden in den Händen zu halten und nichts dem Zufall zu überlas- sen, übernahm der Frontmann im Zuge der HOLY DIVER-Aufnahmen auch die Produktion. Allerdings nicht immer nach dem Geschmack aller Beteiligten. „Ronnie hatte im Studio eine sehr klare Vision davon, wie das Album zu klingen hat“, erinnert sich Vivian Campbell an die strengen Vorgaben des Frontmanns. „Und das akzeptierten wir. Allerdings war es nicht einfach für mich, mit Dio zu arbeiten. Er hatte zum damaligen Zeitpunkt echte Probleme mit seiner Kommunikation und schaffte es einfach nicht, seine Ansagen auf eine freundliche Art und Weise zu vermitteln. Das war ein ungutes Gefühl – aber vielleicht wollte er mich für die Aufnahmen in genau dieser Stimmung haben.“ Das Endergebnis gibt Ronnie James Dio zumindest recht.
Die Taufe des Schweinepriesters
Am 25. Mai 1983 stand das erste Dio-Soloalbum in den Läden und erfüllte die großen Erwartungen der Fans nicht nur musikalisch, sondern auch aufgrund des mittlerweile legendären Covers. Inspiriert von Dios Leidenschaft für düstere Fantasy-Geschichten zeigt HOLY DIVER einen Priester in Ketten, der von einer diabolischen Fantasiefigur (von der Band möglichst albern „Murray“ getauft) im feuchten Nass versenkt wird. „An der Entstehung der Cover beteilige ich mich stets sehr gewissenhaft“, erläuterte Dio einst seine Rolle innerhalb des visuellen Gesamtkonzepts. „Ich habe immer versucht, den Inhalten der jeweiligen Alben Ausdruck zu verleihen. Nicht alles ist so, wie es auf den ersten Blick anmutet. Man weiß nicht, ob der Mensch im schwarzen Anzug von HOLY DIVER nicht selbst ein Unhold ist und derjenige, den man als Dämon auffasst, vielleicht sogar Gott. Ich will, dass die Leute die Realität hinterfragen: Ist das vermeintlich Böse gut, oder umgekehrt?“
„Dio sollte Die Band werden, in der ich immer spielen wollte.“ Ronnie James Dio
Mit dem Album im Gepäck ging es für die Band ins Vorprogramm von Aerosmith. „Als diese sich auf offener Bühne in die Wolle bekamen, war der Zirkus vorbei“, stöhnt Bassist Jimmy Bain in Erinnerung an die damalige Tournee. „Es waren eigentlich viel mehr Gigs vorgesehen.“ Einen entscheidenden Vorteil hatte diese kurze Bekanntschaft aber dennoch: Dio unterschrieb bei der Agentur von Aerosmith, die dem Quartett versprach, es in kürzester Zeit auf die großen Bühnen des Landes zu hieven – und die Macher hielten Wort. Nach einem Auftritt an der Seite von Twisted Sister, Whitesnake und ZZ Top beim Monsters Of Rock-Festival in Donington spielte man mit den damaligen Prog-Newcomern Queensrÿche eine Konzertreihe an der US-Westküste, die bereits um die 6.000 Zuschauer pro Abend zog. „Der Schub, den wir erfahren haben, kam durch die Unterstützung der Fans zustande, nicht durch unser Label“, verteilte Dio einen Seitenhieb auf die damalige Plattenfirma. „Dort interessierte sich kein Schwein für uns. Der Erfolg stellte sich ein, weil den Kids unsere Musik gefallen hat. HOLY DIVER war ein großartiges Album einer starken Band und verkaufte sich einfach wie von selbst.“ Im September 1984 wurde die Scheibe in den Vereinigten Staaten mit Gold ausgezeichnet, 1989 folgte Platin. Doch abseits des kommerziellen Erfolgs hatte sich der Frontmann mit diesem Solodebüt bereits seinen Lebenstraum erfüllt. „Dio sollten die Band werden, in der ich immer spielen wollte.“